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Ein sozialeres Europa ist möglich

Anlässlich der deutschen EU-Ratspräsidentschaft diskutierten SoVD und AWO über europäische Strategien zur Armutsbekämpfung. Unter anderem nahmen der Bundesarbeitsminister Hubertus Heil und der EU-Kommissar Nicolas Schmit teil.

Adolf Bauer steht am Mikrofon.
SoVD-Präsident Adolf Bauer eröffnet die Veranstaltung. Foto: Wolfgang Borrs

Die Europäische Union steht derzeit vor großen Belastungen. Der Brexit ist nach wie vor nicht gelöst, der „Green New Deal“ der Kommission sorgt für Streit und die Bekämpfung der Corona-Pandemie fordert große Anstrengungen. Doch daneben gibt es weitere Handlungsfelder.

Im Sommer hat Deutschland die europäische Ratspräsidentschaft übernommen und dafür ein ambitioniertes Programm erstellt, das die Armutsbekämpfung in den Mittelpunkt stellt.

SoVD und AWO fragten deshalb am 12. Oktober bei einer hybriden Veranstaltung mit Präsenzvorträgen und digital zugeschalteten Gästen nach „Europäischen Strategien zur Armutsbekämpfung“.

Daran beteiligten sich Vertreter*innen beider Verbände, Spitzenpolitiker*innen wie Hubertus Heil und EU-Kommissar Nicolas Schmit, sowie Wissenschaftler und Betroffene. Durch das Programm führte Petra Pinzler.

Ein soziales Programm für Europa

Die Eröffnung übernahm SoVD-Präsident Adolf Bauer. Er griff das Programm der Bundesregierung für die Ratspräsidentschaft auf. Danach solle Europa während der deutschen Ratspräsidentschaft „stärker, gerechter und nachhaltiger werden“. Er erinnerte daran, dass Armut in Europa durch die Corona-Pandemie an Dringlichkeit gewinnt, jedoch auch vorher schon ein wichtiges Thema war. Bauer verwies auf die „Europa-2020-Strategie“, wonach bis dahin die Armut in der EU deutlich reduziert werden sollte. Dies sei nicht gelungen. Darunter litten laut Bauer insbesondere vulnerable Gruppen wie Ältere, Menschen mit geringem Bildungsgrad oder Menschen mit Behinderung.

Um Armut in Europa zu bekämpfen, fordert er ein soziales Programm der Gemeinschaft: „Wir müssen die Gleichstellung vorantreiben, bezahlbaren Wohnraum schaffen, Inklusion von Menschen mit Behinderungen umsetzen, flächendeckende Barrierefreiheit sicherstellen und dafür sorgen, dass Pflege und Krankheit nicht zur Armutsfalle werden. Denn wir wollen ein Europa ohne Armut. Wir wollen ein Europa des sozialen Zusammenhalts! Wir wollen ein soziales Europa!“

Gerwin Stöcken, Präsidiumsmitglied der AWO und Sprecher der Nationalen Armutskonferenz, griff diese Gedanken auf und plädierte für die Einrichtung von existenzsichernden Grundsicherungssystemen. Der deutschen Ratspräsidentschaft käme dabei eine besondere Rolle zu, denn jetzt sei es möglich, die Weichen für die nächsten Jahre zu stellen. Er warnte davor, dass Kinder die Verlierer der Corona-Krise werden. Schon jetzt sei EU-weit fast jedes vierte Kind von Armut und Ausgrenzung bedroht.

Benjamin Benz, Professor für Politikwissenschaft / Sozialpolitik an der Evangelischen Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe, fragte, wie die EU Armut bekämpfen könne. Zuerst hielt er pointiert fest, dass die EU in den letzten Jahren „eher die Armen als die Armut bekämpft“ habe. Doch mittlerweile hätten viele Verantwortliche den Wert des Sozialen erkannt. Die jetzt formulierten Ziele seien nicht nur Lippenbekenntnisse. Wichtig sei es deshalb, eine verbindliche, europäische Strategie zu entwickeln. Wenn dies nicht gelinge, sei auch eine „Koalition der Willigen“ vorstellbar, die im kleineren Kreis feste Standards verabredet. 

Heil: Entwicklung europäischer Sicherungssysteme

Dass es dringend nötig sei, das Soziale in Europa zu stärken, sah auch Nicolas Schmit, EU-Kommissar für Beschäftigung und soziale Rechte, so. Sein Vortrag war eine Art Bestandsaufnahme, wohin Neoliberalismus und Austerität die EU geführt haben. Schmit kritisierte Tendenzen wie die zunehmende Prekarisierung von Beschäftigung, die Verdrängung auf dem Wohnungsmarkt und die nach wie vor verbreitete Kinderarmut. Armut in reichen Gesellschaften wie der europäischen sei ein Skandal. Seine Rhetorik ließ hoffen, dass ein Umsteuern tatsächlich möglich ist.

Zum Schluss dankte Nicolas Schmit den ausrichtenden Verbänden für ihre lange Tradition des solidarischen Handelns.

Anschließend war der deutsche Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) zugeschaltet. Er bezeichnete die Corona-Krise als „Brennglas“, das die bisherigen Probleme offenlege und Handlungsbedarf produziere. Die Krise zeige aber auch, dass sozialstaatliche Elemente wie das Kurzarbeitergeld funktionierten und Menschen vor Armut schützten. Heil kündigte an, während der deutschen Ratspräsidentschaft einen europäischen Rahmen für nationale Löhne und Sicherungssysteme zu entwickeln. Dies könne zwar nicht zu einem einheitlichen Mindestlohn in der EU führen, jedoch zu einheitlichen Kriterien. Er stellte dabei auch in Aussicht, dass der deutsche Mindestlohn (von aktuell 9,35 Euro) schneller als derzeit steige und die 12-Euro-Marke erreichen würde.

EU hat ein Imageproblem

An der folgenden Podiumsdiskussion beteiligten sich Erika Biehn von der Nationalen Armutskonferenz, Gabriele Bischoff (SPD), Mitglied des Europäischen Parlaments, Prof. Benjamin Benz sowie Malte Steuber, Bundesvorsitzender der Jungen Europäischen Föderalisten Deutschland. Deutlich wurde dabei, dass die EU als Akteur stärker wahrgenommen werden und dafür neues Vertrauen gewinnen muss. Seit der Finanzkrise und den harten Sparmaßnahmen sei dieses verloren gegangen.

Für viele Menschen sei die EU weit weg, war von den Beteiligten zu hören. Wenn es jedoch gelänge, über die EU eine soziale Wende herbeizuführen, würde die Akzeptanz steigen. Gabriele Bischoff sprach dabei von einem „Möglichkeitsfenster“, das derzeit offenstehe. Genug Ansätze, was zu tun wäre, wurden während der Tagung vorgestellt.

Viele Ansätze zur Verbesserung

Die Schlussworte sprachen Prof. Jens M. Schubert, Geschäftsführer des AWO-Bundesverbandes nach § 30 BGB und die SoVD-Vizepräsidentin Prof. Ursula Engelen-Kefer. Prof. Schubert mahnte an, dass Appelle und nette Worte alleine nichts bringen. Um den sozialen Fortschritt zu fördern, seien verbindliche Rechtsakte nötig.

Prof. Engelen-Kefer beklagte die oft erlebte Diskrepanz zwischen politischen Zielen und der Realität. Sie nannte drei wesentliche Instrumente, um ein sozialeres Europa zu formen: einen europäischen Mindestlohn, einen europäischen Rahmen für die Grundsicherung sowie einen Standard für eine EU-Arbeitslosenversicherung.

Die interessante Veranstaltung hat ein weites Feld berührt. Es gibt zu diesem Thema gewiss noch weiteren Gesprächsbedarf.